“Ich will alles – und zwar sofort!”

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Impulse für die Zukunft der Vertragsärzte

„Ich will alles und zwar sofort!“ Mit diesem Lebensmotto ist der legendäre Rolling Stones Chef Mick Jagger vor vielen Jahren angetreten – und hat es bis heute durchgezogen. Dieses Motto hat eine ganze Generation von ihm übernommen. Handel und Industrie bemühen sich seitdem, der Lebenseinstellung des „Sofort und Alles“ gerecht zu werden und haben damit dem Instant bzw. Sofort-Gedanken zu weiterer Verbreitung verholfen. Es fing an mit Nescafé als erstem Instant-Kaffee und formt heute im „next-day-delivery“ von Amazon und anderen Versendern die Erwartungen von Verbrauchern an Produkte und Dienstleistungen.

Verbraucher sind auch Patienten

Diese Verbraucher sind natürlich auch Patienten und übertragen ihre „Alles und Sofort“-Erwartung auch auf die Medizin. Jeder Niedergelassene kennt das: Man möchte sofort einen Termin; man möchte nicht im Wartezimmer sitzen, sondern sofort drankommen. Man will sofort gesund werden, und wenn es dem Ende zugeht, ohne langes Leiden sofort sterben. Da kann einem als Ärztin oder Arzt schon schwindelig werden, der Ärger oder die Wut in einem hochsteigen oder die pure Verzweiflung packen. Aber was hat man davon? – Nichts! Wir müssen die Patienten nehmen, wie sie sind. Es gibt keine anderen. Und es kommen auch keine besseren. Handel und Industrie machen uns vor, wie es geht. Das Stichwort heißt Kundenzentrierung und ist einer der Schlüssel zum ökonomischen Erfolg. Und ohne den kann auch keine Praxis bestehen. Bei keinem der großen Markenartikel-Unternehmen habe ich bei Beratungsprojekten je ein böses oder auch nur kritisches Wort über Verbraucher gehört. Kein Unternehmen der Welt betrachtet sich als Lehrer oder Erzieher seiner Kunden. Im Gegenteil: Man investiert Millionen von Dollars und Euros, um die Wünsche und Bedürfnisse seiner Kunden zu erfassen. Und zentriert dann seine Produkte und Dienstleistungen auf diese Wünsche. Ein Trost für Arztpraxen: Durch täglichen Patientenkontakt müssen Sie kein Geld in Marktforschung investieren. Sie müssen nur mit großer Aufmerksamkeit zuhören und auf die Bedürfnisse der Patienten reagieren. Vielen widerstrebt dies, und ich kann das sehr gut nachvollziehen. Aber es nützt nichts. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass eine Marktwirtschaft von den Kunden und ihren Entscheidungen gesteuert wird. Und dieser Mechanismus gilt auch im Verhältnis zwischen Arzt und Patient.

Pateinten verändern sich ständig

Und es geht nicht nur um die Sofort- und Alles-Erwartung. Die Patienten verändern sich ständig und in den nächsten Jahren vermutlich besonders stark. Jetzt kommen die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, ins „arztfähige“ Alter. Jetzt haben wir es mit Patienten zu tun, die anspruchsvoller sind als ihre Eltern, die aktuell zu unseren ganz alten Patienten zählen. Diese Patienten sind IT-affin und wissen, was ein Smartphone ist. Und sie sind zunehmend kritisch und wollen sehen und verstehen, was bei Diagnose und Therapie passiert. Erfreulicherweise haben diese Patienten im Durchschnitt aber auch finanzielle Möglichkeiten, die sie durchaus in die Lage versetzt, einiges in ihre Gesundheit investieren zu können. Die Industrie legt aktuell sehr viel Wert auf das, was ein Verbraucher so erlebt, bis das gewünschte Produkt zu Hause im Kühlschrank liegt oder bis der neue Handy-Vertrag unterschreiben ist. Man nennt es die Erforschung der „customer journey“.

Patienten Journey

Sind Sie bereit für eine kurze „Patienten Journey“? Los geht’s: Höllische Halsschmerzen. Es geht nicht mehr mit Lutschtabletten, ich muss zum Arzt. Internetseite des gesuchten Arztes? Na ja. Online Terminvergabe? Was ist das denn? Also anrufen. Dumm, es ist gerade 12.15 Uhr und man hört die Durchsage, dass man außerhalb der Öffnungszeiten anruft. Erste Ohrfeige, aber die spürt man nicht so richtig, weil die Mandeln so wehtun. Als warten bis 14.00 Uhr. Neuer Versuch: piep piep piep piep. Besetzt! Wir erinnern uns, dass Geduld eine Tugend ist. 14.19 Uhr endlich ein Erfolg: eine freundliche Stimme: „Praxis Dr. …. Bitte einen Moment …“ Im Hintergrund hört man munteres Treiben. „Hallo sind Sie noch dran?“ Das hat man schon höflicher gehört. Was soll‘s, ich habe Fieber und deshalb musste ich meine Rolle als Kunde mit der eines Patienten tauschen. Ende dieser kleinen Begebenheit, die sich so oder so ähnlich täglich viele Male in Deutschland abspielt, natürlich nicht im Saarland. Unternehmen werten ihre „customer journeys“ sorgfältig aus und überlegen, wie sie besser werden können.

Chance nutzen: Versetzen Sie sich in Ihre Patienten

Diese Chance haben wir auch. Versetzen wir uns in unsere Patienten. Dazu müssen wir uns gar nicht mal anspruchsvolle Privatpatienten vorstellen. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem GLOBUS SB-Warenhaus beschäftigt und an Öffnungszeiten von 8.00 bis 20.00 Uhr gewöhnt. Was denken Sie, wenn eine Praxis wegen Mittagspause nicht erreichbar ist? Oder Sie arbeiten im Call-Center der Sparda-Banken in St. Ingbert. Welchen Eindruck müssen Sie von einer Praxis bekommen, die sie in der beschriebenen Weise am Telefon begrüßt? Oder Sie sind Mitarbeiterin in einem CineStar Kino, bei dem man selbstverständlich seinen Wunschplatz im Kino online reservieren kann. Wie denken Sie, wenn man in einer Arztpraxis seine Termine nicht online buchen kann? Solche Überlegungen könnten vielleicht Anstöße für Optimierungsüberlegungen liefern.

Zurück zum Halsschmerzpatienten: Nachdem ich dann einen Termin bekommen hatte und mit meinen Medikamenten wieder zu Hause sitze und aufs „Sofort-Gesundwerden“ warte, meldet sich mein Handy. Gestern hatte ich mein Auto zur Inspektion in der Werksstatt. Und heute erkundigt sich eine freundliche Stimme, ob alles in Ordnung sei, wie zufrieden ich sei und ob die Höhe der Rechnung im Hinblick auf die durchgeführten Arbeiten in Ordnung ist. Kein Fieberwahn, sondern Realität. Ich freue mich, dass sich jemand so sehr für mein Auto interessiert. Und dann frage ich mich, ob in Deutschland ein Auto mehr wert ist als ein Mensch. Einen solchen Anruf habe ich von meinem Doktor noch nie bekommen – zumindest bis jetzt. Eines ist mir ganz wichtig: Alle diese Erlebnisse haben nichts aber auch gar nichts mit der medizinischen Kompetenz eines Arztes zu tun und werden vielleicht deshalb von manchen PraxisinhaberInnen nicht so deutlich gesehen.

Denn Medizin, vor allem, wenn sie evidencebasiert betrieben wird, ist zunächst eine rationale Aufgabe. Zumindest für den Arzt! Für den Patienten ist Medizin aber zu 98 % eine emotionale Angelegenheit. Er oder sie fühlt sich elend, macht sich Sorgen oder hat sogar richtig Angst. Oder man will nur eine Kleinigkeit klären und steht unter Zeitdruck. In allen diesen Fällen zählen die beschriebenen Erlebnisse und ähnliche doppelt. Negativ – aber natürlich auch positiv, wenn man die Berührungspunkte zum Patienten perfekt gestaltet. 

Sie sehen, customer journeys können eine Fülle von Anregungen liefern. Manche davon kann man als einzelne Praxis umsetzen. Andere lassen sich vermutlich besser in der Gemeinschaft der Vertragsärzte zusammen mit den KVen umsetzen. Natürlich gibt es auch immer die Null-Option, also nichts tun. Dann laufen wir aber vielleicht Gefahr, dass die Wünsche der Patienten von anderen entdeckt und erfüllt werden. Ein Beispiel ist die vielleicht das Thema der Terminvergabestellen. Hier wurde möglicherweise jahrelang den Patienteninteressen nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. (Ausnahme Saarland (!) mit dem Modellversuch der Dringlichkeitsüberweisung.) Schließlich hat die Politik dankbar die offene Flanke der Ärzteschaft genutzt. So sichert man sich Wählersympathien! Jetzt über Terminvergabestellen zu klagen, ist wenig produktiv. Wir sollten lieber daraus lernen und unsere Energie in proaktive patientenfreundliche Maßnahmen investieren. Wann hat die Ärzteschaft eigentlich zum letzten Mal durch eine richtig gute patientenorientierte Innovation für Aufsehen gesorgt?

Dr. Gundolf Meyer-Hentschel

(Der Text stammt aus dem Jahr 2015; aufgrund seiner Aktualität greifen wir ihn hier erneut auf)

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